1. Einleitung
Schuld haben ist ein menschliches Phänomen, ebenso das Bedürfnis, sich von dieser Schuld zu befreien. Ungeachtet des zunehmenden Individualismus unserer Gesellschaft haben die meisten Menschen das Bedürfnis, sich in ihrem Handeln, auch bezüglich der Schuldbewältigung, an einer übergeordneten Instanz zu orientieren. Es stehen drei öffentliche Instanzen zur Verfügung: Der Staat als Gesetzgeber, die Kirchen als Wertvermittler und die Medien als Ratgeber und Idolaufbauer. Nicht immer vermögen übergeordnete Instanzen das Bedürfnis um Handlungsanleitung zu befriedigen, in diesem Fall ist der Mensch auf sich allein gestellt; oft kann er auf soziale Beziehungen zurückgreifen oder holt sich Unterstützung bei Fachleuten. In der Scheidungssituation sind dies Mediatorinnen und Mediatoren mit psychosozialer und juristischer Ausbildung. Wenn sich die Eheleute verständigt haben, wie die Schuldfrage bewältigt werden soll, ist die Mediation abgeschlossen.
2. Schuld im Übergang vom alten zum neuen Scheidungsrecht
Während fast einem Jahrhundert hatte die Justiz als übergeordnete Instanz dem Scheidungspaar eine Anleitung zum Umgang von Schuld angeboten:
Mit der Regelung der Kinderzuteilung (Gerichtspraxis bis 60er Jahre) und des Unterhalts wurde ein Ausgleich geschaffen zum Verschulden der Ehepartner an der gescheiterten Beziehung. Dies setzte voraus, dass die Schuld gemessen werden konnte, dass es allgemein gültige Kriterien gab dafür, was denn das akzeptable Verhalten eines Ehemannes und einer Ehefrau, bzw. eines Vaters und einer Mutter sei. Mit dem gesellschaftlichen Wandel des Rollenverständnisses von Mann und Frau kamen jedoch diese einheitlichen Kriterien abhanden, zwangsläufig es wurde auch immer schwieriger, die Schuld am Scheitern der Ehe zu bewerten.
In der altrechtlichen Vereinbarung, dass die Ehe zerrüttet sei (Scheidungsgrund nach Art. 142 Abs. 1 alt ZGB), klang implizit das oft oberflächliche Eingeständnis mit, man trage die Verantwortung für das Scheitern gemeinsam. Wenn keine Vereinbarung zwischen den Eheleuten zustande kam - der Fall der strittigen Scheidung - wurde oft genug eine Auseinandersetzung geführt, die sich zerstörerisch auf Paar- und Eltern-Kind-Beziehungen auswirkte, aber immerhin stellte das Gesetz für die Frage nach dem Verschulden den Parteien eine Orientierungshilfe und Reibungsflächen zur Verfügung.
Unter dem alten Scheidungsrecht stellten die Eheleute die Frage nach der Schuld fast immer in den Zusammenhang mit dem nachehelichen Unterhalt und der güterrechtlichen Auseinandersetzung. In der Mediation werden diese Fragen umformuliert nach der Bedeutung des Rechts für die Medianten. Das Paar kann sich dafür entscheiden, eigene Gerechtigkeits- und Fairnesskriterien entwickeln oder es kann sich eng am Recht orientieren. Falls sich das Paar unter dem alten Scheidungsrecht dafür entschied, sich eng am Gesetz zu orientieren- vielleicht um den gefürchteten Auseinandersetzungen auszuweichen - konnte unter dem Titel des Scheidungsgrundes der Zerrüttung generell festgestellt werden, man sei am Zerwürfnis zu zweit beteiligt, man habe sich auseinandergelebt. Der Unterhalt wurde geschuldet nach Art. 152 alt ZGB (Entschädigungsrente an den schuldlosen Ehegatten) und Art. 152 alt ZGB (Unterhalt des Nichtschuldigen an den bedürftigen, schuldlosen Ehepartner). Das Gesetz verlangte, dass zwecks Definition des Scheidungsgrundes (Ehebruch, Misshandlung, Verbrechen und unehrenhafter Lebenswandel, böswilliges Verlassen, Geisteskrankheit oder die unheilbare Zerrüttung) die Schuld zu klären sei, sie konnte mit Unterhaltszahlungen gesühnt werden und das Paar konnte diese Lösung akzeptieren.
Im neuen Scheidungsrecht, bei den gemeinsamen Scheidungsbegehren nach Art. 111 und 112 ZGB ist es aus juristischer Sicht nicht mehr opportun, den Begriff von Schuld und Schuldausgleich zu diskutieren. Für das scheidungswillige Paar ist deswegen die Frage nach der Schuld und dem Umgang nicht aus der Welt geschafft: Sie wird zur Privatsache und fällt allenfalls in den Kompetenzbereich der Mediation. Im positiven Fall werden paardynamisch massgeschneiderte Konfliktregelungen möglich. Gleichzeitig ist die Gefahr der Tabuisierung in einer der wichtigsten Kernfragen im Ablösungsprozess der Scheidung gestiegen: Wer ist schuld, dass wir gescheitert sind? Wie tragen wir die Verantwortung für das Scheitern der Ehe und auf welchen Kriterien soll ein Ausgleich beruhen?
Tabuisierungen stehen psychodynamisch für nicht verarbeitete, verdrängte, verleugnete Konflikte. Die Tabuisierung der Schuld in der Scheidungssituation führt dazu, dass Vereinbarungen emotional nicht abgestützt sind, und deshalb nicht oder nur teilweise eingehalten werden. Leidtragende sind häufig die Kinder. Deshalb liegt es in der Verantwortung der Mediatorin, die Frage nach dem Umgang mit dem Thema Schuld zu stellen, auch wenn sie vom Paar gemieden und weil sie vom Recht als nicht (mehr) relevant eingestuft wird.
3. Schuld als moralischer Begriff
Neben dem Staat nehmen zwei weitere öffentliche Instanzen Einfluss auf die Moral der Gesellschaft: Die Kirchen und die Medien. Es mag eigenartig erscheinen, in einem Fachgebiet, das den psychosozialen und juristischen Berufen vorbehalten scheint, die öffentliche Moral zu bemühen. Eine systemische Arbeitsweise kommt jedoch nicht umhin, das Umfeld seiner Klientel in Betracht zu ziehen. Da die justizielle Öffentlichkeit im einvernehmlichen Scheidungsverfahren keinen Einfluss mehr darauf nimmt, wie die Schuld zu regeln sei, stellt sich die Frage, wie die beiden andern öffentlichen Instanzen die Menschen bezüglich Werthaltungen in der Beziehung beeinflussen und stützen.
3.1. Die Kirchen
Die christlichen Religionen, Basis der Schweizerischen Landeskirchen und somit zuständig für die öffentliche Moral, sehen den Mensch seit dem Sündenfall von Adam und Eva als schuldbeladen an. Höhere, wertleitende Instanz ist der Gottvater. Dem Menschen wird die Fähigkeit verliehen, sich schuldig zu fühlen; es wird ihm die Hoffnung gegeben, durch das Verzeihen der Schuld anderer einen Ausgleich zu schaffen zu eigener Schuld, und es wird ihm dafür Liebe in Aussicht gestellt. "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, diese Bitte richten wir nicht an einen strafenden Gott, .......... Die Verzeihung, die der Vater uns im Busssakrament schenkt, führt uns zu grösserer Hingabe in Liebe." (Bistum Chur: Hirtenbrief zur Fastenzeit 1999 Website Internet). Diese Botschaft könnte in Scheidungssituationen stützend und ermutigend wirken, stösst aber schnell an die institutionellen Grenzen der Kirche. Christlichen Paaren, welche gegen das Gebot des Ehebruchs im erweiterten Sinn verstossen, indem sie die Ehe nicht durch Tod, sondern durch Scheidung auflösen, fehlt eine institutionell verankerte Möglichkeit der Vergebung. Vereinzelt werden von Kirchgemeinden Scheidungsrituale angeboten, aber solange die katholische Kirche die Scheidung tabuisiert, kann das Scheidungspaar von dieser Seite kaum Unterstützung in der Bewältigung der Schuldfrage erwarten.
3.2. Die Medien
Die Medien, neben Kirche und Staat die dritte öffentliche Instanz für Normen und Werte, haben zwangsläufig desto mehr Einfluss auf die Moralvorstellungen einer Gesellschaft, je weniger sich die Individuen an Kirche und Gesetz orientieren können/wollen. Dabei stehen aufklärende Literatur zu Beziehungsthemen, die sog. Lebenshilfebücher im friedlichen Wettstreit zu den Ratgeberecken der Tageszeitungen, zu den People-Stories gehobener Glanzzeitschriften und zu den schreienden Titelaussagen der Boulevardpresse. Die Vielfalt der Meinungen dürfte aber eher verunsichernd als stützend wirken. Die Beliebigkeit, wie zum Beispiel mit Treue (eines der beliebtesten Themen der Boulevardpresse und Soap-Sendungen im TV) umzugehen sei, ist beinahe unbegrenzt und der/die Konsument/in kann sich die passende Legitimation für die eigene Position im Ehekonflikt auswählen. Scheidungspaare erhalten in Bezug auf die Schuldfrage auch von dieser Seite keine allgemein gültigen, wertleitenden Anweisungen: sie werden von allen drei Instanzen Justiz, Kirche, Medien auf den Weg der Selbstbestimmung gewiesen.
4. Der Schuldbegriff in der Tiefenpsychologie
Die Tiefenpsychologie hat dem Problem der Schuld einen festen Platz eingeräumt. Die meisten, zum Teil sehr komplexen Persönlichkeitsmodelle gehen davon aus, dass eine innere Instanz, das "Ich" (Freud) darüber wacht, ein konstantes inneres Gleichgewicht zu halten. Schuldgefühle werden von einer anderen inneren Instanz, dem "Über-Ich" (Freud) oder dem "Gewissen" (Hirsch) verursacht. Schuldgefühle werden als innere Spannung negativ empfunden, welche das psychische Gleichgewicht stören. Wenn die innere Spannung nicht bewältigt werden kann, indem der Konflikt aufgelöst wird, kommt es zu Verdrängung oder Verleugnung. Was konfliktbeladen ist, wird aus dem Wege geschafft, indem man schweigt, vergisst, sich weigert, hinzusehen und hinzuhören. Damit ist wohl das Thema aus dem Bewusstsein geschafft, nicht aber die dazugehörenden negativen Gefühle, diese wirken als innere Spannung weiter und bewirken psychische und somatische Beschwerden oder wirken sich destruktiv auf alte und neue Beziehungen aus.
Kast (1982, S. 94) betrachtet Schuldgefühle als Bestandteil eines normal verlaufenden Trauerprozesses, "denn wer könnte schon von sich behaupten, eine Beziehung ohne jedes Versäumnis gelebt zu haben?", Schuldgefühle hängen nach Kast mit dem zusammen, was in der Beziehung zwischen zwei Menschen ungeklärt geblieben ist, und sie beeinträchtigen - falls sie vom Trauernden verdrängt werden - das psychische Leben und können zur Depression führen. Doch auch dann, wenn die Schuldgefühle nicht verdrängt, aber wegen der fehlenden Möglichkeit der Vergebung nicht bewältigt werden, würden sie das Individuum in der Trauer festhalten. Interessant ist nach Kast, dass Schuldgefühle nicht ausschliesslich mit dem aktuellen Verlust in Zusammenhang stehen (obwohl sie vom Betroffenen auf die aktuelle Problematik reduziert werden), sondern auch mit dem eigenen Lebensstil zu tun haben. "Die Schuldgefühle können einerseits wirklich Dinge betreffen, die in der Beziehung nicht aufgegangen sind, die schuldhaft sind; sie können sich aber auch auf Entscheidungen, Verfehlungen dem eigenen Leben gegenüber beziehen (Kast 1982, S. 101)."
Schuldgefühle, bewusste und unbewusste, können realer Schuld entsprechen, müssen aber nicht. Die Schuldgefühle der Kinder von Scheidungseltern haben nichts mit Verantwortung der Kinder an der Scheidung ihrer Eltern zu tun. Schuldgefühle erzeugen immer eine unangenehme innere Spannung und lähmen das Selbstgefühl. Wenn es nicht bewusst gemacht und durch Überprüfung mit der Realität und durch Versöhnung überwunden werden kann, kann ein solch irrationales Schuldgefühl das Lebensgefühl des Individuums schwerwiegend beeinträchtigen und zu Symptomen führen.
5. Die Schuldfrage in der Familientherapie
Die systemische Paar- und Familientherapie misst der Frage, wie das Individuum mit Schuld- und Schuldgefühlen umgeht, eine untergeordnete Stellung zu. Denn die Frage lautet nicht, warum ein Beziehungssystem (nicht) funktioniert, sondern wie ein System funktioniert. Verhaltensregeln und Vereinbarungen führen zu den gewünschten Veränderungen im System, die dazu korrespondierenden Gefühle stellen sich quasi automatisch mit den veränderten neuen Gegebenheiten ein. In der Trennungs- und Scheidungssituation geht es darum, die gescheiterte Beziehung in einen neuen Rahmen zu stellen. Die Beziehung wird durch die Scheidung neu definiert, die Eheleute werden juristisch gesprochen "auseinandergesetzt", was jedoch nicht garantiert, dass sie auf der beziehungsdynamischen Ebene die alten (Macht)-Spiele aufgeben können, die alten Konflikte weitergeführt oder auf die Kinder übertragen werden.
Gerade bei Scheidungspaaren hat sich die Unzulänglichkeit der Arbeit auf der reinen Verhaltensebene gezeigt: Vereinbarungen, welche das Verhalten regeln sollten, werden sabotiert, weil auf der Gefühlsebene Verletzungen nicht beachtet oder nicht bearbeitet wurden.
Die phasische Familientherapie nach Carole Gammer räumt deshalb der Arbeit mit Gefühlen einen wichtigen Platz ein: erst wenn ein Konflikt auf drei Ebenen, der Paardynamik, der Kommunikation und der Gefühlsebene durchgearbeitet ist, gilt er als aufgelöst.
6. Die Schuldfrage in der Scheidungsmediation
6.1. Allgemeines
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein Mediationsverfahren ist die Anerkennung und Offenlegung der Konflikte zwischen den Mediationspartnern. "Wenn eine Partei bestreitet, dass sie sich in einer Konfliktsituation befindet, werden Versuche, zu einer Vereinbarung zu gelangen, scheitern". In diesem Falle blieben der anderen Partei nur die Möglichkeit, aus der Meinungsverschiedenheit einen Rechtsstreit zu machen" (Haynes,1993, S. 14). Haynes führt nicht näher aus, um welche Art von Konflikten es sich handelt, aus dem Kontext wird jedoch klar, dass es sich um verhandelbare Inhalte wie Kinderbelange, Unterhaltsausgleich zwischen den Eheleuten und dergleichen handelt. Meines Erachtens muss die Anerkennung von Konflikten (und die Bereitschaft, diese auf den Tisch zu legen) auch für die innerpsychische Geschehnisse gelten, soweit sie einen Bezug haben zum Geschehen auf der Verhandlungsebene.
6.2. Das Offenlegen des Schuldkonflikts
Schuldgefühle sind auch in der Mediation oft schwer zugänglich aus folgenden Gründen: Erstens: Die Wahrnehmung der Eheleute, wer Schuld habe, bzw. wer die Verantwortung übernehmen müsse für das Scheitern der Ehe, kann stark abweichen und ist objektiv kaum zu beurteilen. Zweitens: Das Vertrauen zwischen den Konfliktparteien ist gestört; die Angst ist gross, der andere könnte aus einem Schuldeingeständnis einen Vorteil ziehen. Drittens: In der Scheidungssituation ist die emotionale Belastbarkeit des Individuums oft überstrapaziert, hinzu kommen die Belastungen der Umstellung von Alltagsgewohnheiten, neuen Erziehungsanforderungen, Wohn- und Arbeitsverhältnissen, etc. In dieser überfordernden Situation tendiert das Individuum dazu, dem Schuldkonflikt auszuweichen, ihn zu verdrängen oder auf ein anderes Gebiet zu verlagern. Für die Mediation stellt sich die Frage, wie solche verdrängten und verlagerten Schuldkonflikte zu entdecken und zu fassen sind. Weil die Konflikte nicht offengelegt sind, ist die Mediatorin auf Hypothesenbildung angewiesen:
Ständig wiederkehrender, hartnäckiger und eskalierender Streit über Kinderbelange oder die Unterhaltszahlungen können verlagerte Schuldkonflikte sein. Das Ausmass dieser offenen Konflikte ist symptomatisch für den tiefer liegenden Konflikt. Ein weiterer Hinweis für nicht gelöste tiefere Konflikte ist die Verletzung von getroffenen Vereinbarungen: "Oft können offene Konflikte nur vorübergehend gelöst werden, wenn nicht der zugrundeliegende Konflikt behandelt wird oder wenn nicht der offene Konflikt von den zugrundeliegenden getrennt und isoliert behandelt werden kann. Andrerseits wird die Lösung eines zugrundeliegenden Konflikts manchmal dadurch gefördert, dass er anfangs in seiner verlagerten Form behandelt wird (Deutsch 1976, S. 20 ff.)."
Die Aufdeckung eines verdrängten oder verlagerten Konflikts durch die Mediatorin scheint im Widerspruch zur Regel zu stehen, dass die Eheleute das Thema der Mediationssitzungen bestimmen. In tabuisierten Themen kommt jedoch die Mediatorin nicht darum herum, als erste das Tabu anzusprechen, denn die Medianten glauben nicht mehr daran, dass das Thema konstruktiv angegangen werden kann. Sie haben die Möglichkeit, Widerstand zu leisten, der von der Mediatorin richtig erkannt werden muss und wie in der Therapie nicht gebrochen werden darf. Widerstand ist ein sinnvoller Schutz des Individuums, um sich vor übermässiger psychischer Belastung zu schützen.
6.3. Geheimnisse
Besonders schwierig ist der Zugang zu Schuldgefühlen, die mit Geheimnissen verknüpft sind: Zwei oder mehrere Familienmitglieder einigen sich darauf, über ein bestimmtes Ereignis nicht zu sprechen und schliessen damit andere Familienmitglieder von Wissen aus. Geheimnisse und deren Auswirkungen auf die Familie können sich über mehrere Generationen halten, unter Umständen weiss nur noch ein überlebendes Familienmitglied davon, die übrigen Mitglieder leiden unter den Konsequenzen, ohne zu verstehen, warum. Sie bilden sich ihre eigenen Mythen um das Geheimnis. Der Inhalt eines bestimmten Geheimnisses aus der gescheiterten Ehe (z.B. der Tod eines Kindes, künstliche Befruchtung, finanzieller oder gesellschaftlicher Ruin, Suchtprobleme, homosexuelle Orientierung eines Elternteils, etc.) hat für die Ehegatten unterschiedliche Bedeutung und löst auch unterschiedliche Schuldgefühle aus. Weil über das Geheimnis nicht gesprochen werden darf, kann auch über die dazugehörenden Schuldgefühle nicht kommuniziert werden.
In der Familientherapie wird der Aufdeckung und Behandlung von destruktiven Geheimnissen eine grosse Bedeutung eingeräumt. Für die Mediation ist die Differenzierung relevant, dass nicht in erster Linie der Inhalt des Geheimnisses zur Belastung und schliesslich zum Scheitern der Ehe führten, sondern der Umgang damit. Das stillschweigende Einvernehmen zwischen dem Ehepaar, dass über das schuldbelastete, evtl. auch beschämende Ereignis nicht gesprochen wird, führt dazu, dass der Konflikt einfriert und die Beziehung, die Kommunikation und die Gefühle des Ehepaars beeinträchtigt. Drittpersonen, wie z.B. die Kinder, werden vom Geheimnis ausgeschlossen, sind jedoch betroffen von den Konsequenzen. Imber - Black (1995, S. 11 ff.) berichtet von einer freudlosen, mit schweren Symptomen belasteten Familie, in der keinerlei Geburtstage und Familienfeste gefeiert werden durften, weil die voreheliche Geburt des ersten Kindes ein mit grosser Scham und Schuld belastetes Geheimnis bleiben musste.
Die Mediatorin wird im Umgang mit diesen Geheimnissen mit berufsethischen Fragen konfrontiert. Erstens: Wie weit ist sie verpflichtet, mir der Zielsetzung von PAS-Prophylaxe, (PAS: Parental Alienation Syndrome; entfremdender massiver Streit, meist um Sorge- und Besuchsrecht für die Kinder) Geheimnisse und Schuldgefühle anzusprechen? Verstösst Mitwisserschaft und Geheimhaltung der Mediatorin gegen die Regel, dass bei massiver Interessenverletzung von Kindern die Arbeit niederzulegen ist? Zweitens: Gefährdet die Aufdeckung von Tabuisierungen und Geheimnissen die Mediationsarbeit? Die Fragen sind nicht generell zu beantworten. Die Normen und Werte der Mediatorin eben so wie ihr beruflicher Hintergrund wird eine Rolle spielen, ob und wie sie ein Thema offenlegen wird. Die Einschätzung der Belastbarkeit der Medianten und die Qualität des Arbeitsbündnisses sind ebenfalls entscheidend, ob die Mediatorin den Mut hat, konfrontativ zu arbeiten. Im Zweifelsfall entscheide ich mich dafür, Tabuisierungen aufzudecken, auf die Widerstandskraft der Medianten gegenüber angstauslösenden Themen zu vertrauen, auch kleinen Widerstand nie zu brechen, sondern das Thema auf die Seite zu legen, den Konflikt auf der verlagerten Ebene zu bearbeiten, evtl. den Prozess zu verlangsamen und wie der berühmte "Häftlimacher", Gelegenheiten beim Schopf zu packen, um das Thema möglichst nahe an der Realität der Medianten zu thematisieren.
6.4. Projektion von Schuld auf den Partner
Die Projektion von eigenen, nicht akzeptierten Verhaltensweisen auf den/die Partner/in ist ein häufiges Konfliktmuster in Scheidungssituationen, dies trifft auch auf die Schuldanteile an der gescheiterten Beziehung zu. Die Projektion eigener Schuldanteile auf den Partner wird häufig in den Kinderbelangen ausgelebt. Proksch (2000) spricht von einem "ehelichen Projektionssystem." "In der Folge glaubt mindestens ein Elternteil, die Kinder vor dem anderen als "schuldig" verurteilten Elternteil schützen zu müssen." Statt Zusammenarbeit auf der Elternebene entsteht Gegnerschaft, manchmal Feindschaft. Gutgemeinte pädagogische Beschwörungen des Umfelds an solch "gegnerschaftlich" orientierte Väter und Mütter, sie möchten doch den Zorn, die Verbitterung und Ablehnung gegenüber dem früheren, geliebten Partner von den Kindern fernzuhalten, nützen wenig, sondern begünstigt eher noch den Mechanismus der Abwehr eigener, negativ bewerteter Gefühle. Die beschriebene elterliche Projektion könnte mediationsgerecht mit folgendem Konfliktspielbild beschrieben werden: Alle Sünden der ge-scheiterten Ehe, auch die eigenen, werden einem alttestamentarischen Sündenbock aufgeladen und mit den bösen Geistern (die Freundin, die Eltern etc.) in die Wüste geschickt. Taucht der Gehörnte dann am Horizont wieder auf, getrieben durch Rachegefühle oder angelockt durch die Liebe zu den Kindern, wird er um so heftiger mit neuen Schuldzuweisungen gebannt, je diffuser die eigenen Schuldgefühle sind. Jeder und jede kann Sündenbock sein und mit seinen Geistern in seiner Wüste herumirren. Er wird kein neues Zuhause finden, solange der alte Ort nicht befriedet ist.
7. Die Bearbeitung des Schuldkonflikts
7.1. Allgemeines
Der Umgang mit den eigenen Schuldgefühlen ist ein emotionaler Prozess, der über die ganze Zeit der Trennung/Scheidung läuft, d. h. mit dem Scheidungsurteil noch nicht abgeschlossen ist. Besonders Schuldgefühle gegenüber den Kindern dauern bis in die Nachscheidungszeit und können oft erst überwunden werden durch eine nachhaltige, positive Erfahrung der neuen Eltern-Kind-Beziehung.
7.2. Emotionale Phasen
Ob die Schuldfrage konstruktiv angegangen werden kann, hängt wesentlich davon ab, in welcher emotionalen Phase sich das Individuum befindet: In der Mediation wird unterschieden zwischen den a) beziehungsdynamisch zu verstehenden Verlaufsphasen des Scheidungsprozesses (Beziehungskonflikte, Ambivalenz, Trennungs-/Scheidungsphase, Nachscheidungszeit, Neuorientierung) und den b) emotionalen, individuell nicht gleichzeitig durchlebten Phasen der Trennung. In Anlehnung an die Trauerphasen nach Kübler-Ross (1976) wird gegliedert in eine 1. Phase der Verleugnung 2. Phase von Wut, Anklage und Hass 3. Phase von Depression und Verzweiflung 4. Phase der Trauer und eine 5. Phase der Neuorientierung.
Erste Phase: Verleugnung der Tatsachen
In der Phase der Verleugnung kann die Schuldfrage im Mediationsprozess nicht behandelt werden. Einer der Partner hat noch nicht akzeptiert, dass die Beziehung gescheitert ist und der andere die Trennung oder Scheidung will. Diese Phase ist oft gezeichnet durch einen Gefühlsschock, der zu einer emotionalen Verwirrung, Erstarrung und Empfindungslosigkeit führt. Wenn das Thema der Schuldhaftigkeit überhaupt angesprochen wird, werden für die missliche Situation oft äussere Bedingungen (die Freundin meiner Frau, die auch in der Scheidung ist und meine Frau angesteckt hat, oder die Eltern meines Mannes, die ihn gegen mich aufhetzen) verantwortlich gemacht. Die Schuldvorwürfe des anderen Partners, der sich vielleicht bereits in der 2. oder 3. Phase befindet, werden verniedlicht oder gar als haltlos zurückgewiesen. Es wäre sinnlos, in dieser Phase nach einem Schuldbewusstsein zu fragen, da im subjektiven Empfinden die Ehe noch nicht gescheitert ist. Durch ruhiges Akzeptieren des Themas und des Individuums wird jedoch der Boden dafür geschaffen, dass die Schuldfrage zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen werden kann.
Zweite Phase: Wut und Anklage
In der Phase von Wut, Anklage und Hass dominieren Schuldvorwürfe. Es ist - im Gegensatz zu den heissen Konflikten in der Ehetherapie - in der Mediation schwierig, Schuldvorwürfe konstruktiv zu verwenden, es sei denn, es gelinge, aus dem Vorwurf ein zukunftsorientiertes Bedürfnis umzuformulieren, z.B.: "Du hast dich nie um die Kinder gekümmert - möchten Sie, dass Sie trotz Scheidung feststellen könnten, er kümmert sich um die Kinder, und wie müsste dies geschehen?" Solche Umformulierungen sind jedoch heikel, der/die Mediant/in kann sich leicht unverstanden und zurückgewiesen fühlen mit seiner/ihrer Wut und die Intervention als reinen Zynismus verstehen. Mir scheint es sicherer, in dieser Phase Schuldvorwürfe unkommentiert stehen zu lassen, methodisch die Gefühlsebene von der Sachebene zu trennen, allenfalls die Äusserung eines Schuldvorwurfs zum Anlass zu nehmen, auf die spätere Arbeit mit dem Thema Schuld hinzuweisen, z.B.: "Sie sind sehr wütend, können wir trotzdem weitermachen? Sie werden zu einem späteren Zeitpunkt darüber reden, wie sie beide Verantwortung übernehmen können für das Scheitern der Ehe".
Dritte Phase: Depression und Verzweiflung
In der Phase der Depression und Verzweiflung nimmt die Frage nach dem warum des Scheiterns einen grossen Raum ein, es gibt immer noch Schuldvorwürfe, gleichzeitig beginnt aber die Auseinandersetzung mit sich selber. "Wie habe ich dies verdient? Was habe ich denn falsch gemacht? Wie kann ich so weiterleben? Was geschieht nun mit mir und den Kindern?" Statt energieaufwändige Auseinandersetzung mit den eigenen Schuldvorwürfen ist in dieser Phase eher Entlastung indiziert, z.B. durch die Arbeit an zukunftsgerichteten, von den Medianten bestimmten Themen wie die Erarbeitung von Zwischenlösungen oder die Vermittlung von ersten Erfolgserlebnissen, in dem in einem Teilgebiet eine Vereinbarung zustande kommt.
Vierte Phase: Trauer
In der Phase der Trauer liegt die eigentliche Chance der Schuldanerkennung und davon ausgehend die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für das Scheitern der Beziehung. In dieser Zeit des Rückzugs und der Selbstbesinnung wird auch Versöhnung möglich und damit ist der Weg zur gelungenen Mediation geebnet.
Trauer ist rückwärtsgerichtet und eigentlich ein fremdes Element in der (zukunftsgerichteten) Mediation. Die meisten Medianten werden die Trauer ausserhalb der Mediationssitzungen, evtl. mit Unterstützung von Freunden oder Therapeuten bewältigen. Dabei spielt die Auseinandersetzung darüber, was gut war, was verpasst wurde oder was falsch lief, eine grosse Rolle. Wenn es gelingt, die eigenen Anteile am Scheitern realistisch zu sehen, d.h. ein Versagen weder zum Anlass der übertriebenen Abwertung der eigenen Person zu nehmen noch es zu verdrängen, wird aus dem Schuldvorwurf Schuldanerkennung.
Trauerarbeit in den Mediationssitzungen ist heikel, die Mediatorin sollte sich bewusst sein, dass sie damit die gefährliche Gratwanderung zwischen Therapie und Mediation geht. Auf den Gefühlsausdruck des einen Partners wird der andere Partner ebenfalls auf der Gefühlsebene reagieren. Es kann jedoch in einer Scheidungsmediation nicht darum gehen, beim Partner Empathie oder Mitgefühl oder gar Trost auszulösen, dies würde nur neue unrealistische Hoffnungen oder Angst vor neuer Nähe auslösen, was für den Trennungsprozess kontraproduktiv ist. Sich selber verzeihen zu können ist in Bezug auf Schuldanerkennung sehr viel wichtiger, als die Verzeihung durch den Partner. Der geschiedene Partner kann lernen zu leben damit, dass ihm der andere die Fehler nicht verzeiht, nicht gut leben kann er jedoch mit dem Nichtverzeihen eigener Fehler, weil dies - wie bereits dargelegt - zu innerer Spannung und nicht adäquater Verarbeitung wie Projektionen, Ausweitung des Konflikts auf die Kinderbelange oder zu selbstdestruktiven Prozessen wie Somatisierung oder Depression führt.
Wenn die Arbeit an den Schuldgefühlen nicht indiziert ist - dies wird sowohl vom beruflichen Hinter-grund der Mediatorin, als auch vom Arbeitsbündnis mit den Medianten abhängig sein - sollten die Klienten von der Mediatorin ermutigt werden, Gefühle der Trauer und Schuld mit Freunden, Vertrauenspersonen oder Therapeuten zu besprechen. Evtl. kann im Abschlussgespräch der Mediation das Thema noch einmal angesprochen werden. Für eine zukunftsgerichtete, konstruktive Konfliktlösung ist der Austausch von Schuldanerkennung und damit die Übernahme beidseitiger Verantwortung relevant.
Manchmal wird die Phase der Trauer um die verlorene Beziehung von einem oder beiden Partnern übersprungen, vor allem dann, wenn Drittbeziehungen bestehen. Die Abwehr der Schuldgefühle gegenüber dem verlassenen Partner und die Verliebtheit in der neuen Partnerschaft lassen keinen Platz für Trauer. Die mit dem Verlust der Beziehung zusammenhängenden Schuldgefühle werden später, auf einer verlagerten Konfliktebene laut; aus der gegenseitigen Schuldzuweisung und Schuldvorwurf kann im schlimmsten Fall dann eine neue Beziehungsregel entstehen, welche alle Beteiligten über Jahre in einem leidvollen Beziehungssystem gefangen halten kann (Watzlawick 1980, S. 124 ff.; Welter-Enderlin 1996, S. 34 ff.).
Fünfte Phase: Neuorientierung
In der Phase der Neuorientierung können Schuldanerkennung und Verantwortungsbewusstsein konstruktiv umgesetzt werden: Ein gesunder Mensch wird mit dem Schuldbewusstsein immer auch Bedauern oder Reue empfinden und das Bedürfnis haben, es in der Zukunft anders und besser zu machen. Manchmal werden für die Nachscheidungszeit Lösungen z. B. in den Kinderbelangen entwickelt, deren Realisierbarkeit während der Ehe nicht für möglich gehalten wurde.
Wichtig ist, dass Schuldanerkennung auch eine gefühlsmässige Komponente hat. Das trotzige Eingeständnis (z.B: "Ja, es war etwas gemein, dass ich meine Frau so lange mit meiner Freundin betrogen habe, aber ich bereue es nicht.") ist keine Schuldanerkennung, weil das Erleben der Schuld nicht zugelassen wird. Schulderfahrung oder Schulderleben hat immer eine emotionale Qualität, dies kann Reue sein, (der Wunsch, man hätte sich anders verhalten, die Schuld nicht auf sich geladen) oder Trauer darüber, dass man nicht anders handeln konnte oder nicht anders sein konnte.
Wenn das Schuldbewusstsein echt erlebt ist, Trauer und Reue darüber empfunden wird, kann die Episode abgeschlossen werden. Die Einsicht, ich habe Fehler gemacht und trage somit Verantwortung für das Scheitern, eröffnet die Bereitschaft, eine neue Situation zu schaffen. Wenn beide Partner diesen Schritt tun, können sie die neue Situation gemeinsam gestalten und gemeinsam Verantwortung übernehmen für die Zukunft.
8. Ausblick
Die Einreichung des Scheidungsbegehrens und der Konvention ans Gericht, ein profaner Gang zur Post, ist kein Glanzpunkt unter den Scheidungsprozess des Paares. Wenn nach zweimonatiger Bedenkfrist und schriftlicher Bestätigung das Gerichtsurteil jedem Partner einzeln zugestellt wird, fehlt eine Instanz, die beide Partner noch einmal zusammen begrüsst, ihren Willen zur gemeinsamen Verantwortung bestärkt und ihnen dazu Glück wünscht. Diese Aufgabe könnte die Mediation übernehmen, ich wünsche mir, dass dahingehende Konzepte entwickelt werden.
Literaturverzeichnis:
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Friedman G. (1993): Die Scheidungsmediation, Hamburg
Glasl F. (1999): Konfliktmanagement, Bern
Haynes J. (1993): Scheidung ohne Verlierer, München
Hirsch M. (1998): Schuld und Schuldgefühl, Göttingen
Imber-Black E. (1995): Geheimnisse und Tabus in Familie und Familientherapie, Freiburg im Breisgau
http:// soho.globalpoint.ch......gebete.htm, 20.07.2000
Kast V. (1982):Trauern Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, Stuttgart
Kodje U., Koeppel P. (1998): Früherkennung von PAS - Möglichkeiten psychologischer und rechtlicher Interventionen, München
Kübler-Ross E.(1976): Interviews mit Sterbenden, Stuttgart
Proksch R. (2000): Die gemeinsame elterliche Sorge. Forum Mediation. Zeitschrift des SVM 2000/1, Winterthur
Watzlawick P. (1969): Menschliche Kommunikation, Bern
Welter-Enderlin R. (1996): Deine Liebe ist nicht meine Liebe, Freiburg im Breisgau
von Marlies Glaus