Es ist wieder so weit: Im Herbst werfen die Bäume nicht nur ihr Laub, sondern auch haufenweise Früchte ab. Äpfel, Maroni, eine Hülle und Fülle an Nüssen – sie stapeln sich im Überfluss auf der Wiese unter den Bäumen und Sträuchern des Nachbarn, und keiner macht Anstalten, sie aufzusammeln. Da darf man beim Vorbeigehen doch mal zugreifen – oder?
Aufgepasst: Ohne klaren Hinweis des Nachbarn darauf, dass er sein Obst nicht selbst behalten will (etwa durch ein entsprechendes «Zum Mitnehmen»-Schild), ist das Stibitzen von Früchten aus fremden Gärten sowohl sachenrechtlich als auch strafrechtlich relevant!
Im Grundsatz gehören Baumfrüchte nämlich dem Eigentümer des Bodens, auf welchem der Baum steht – ganz egal, ob die Früchte noch am Baum hängen oder schon auf dem Boden liegen. Pflückt man deshalb frische Äpfel direkt vom Baum, oder liest man die Baumnüsse aus Nachbars Garten vom Boden auf, so begeht man einen Diebstahl. Der Nachbar hat dann auch das Recht, die Früchte herauszuverlangen – oder Schadenersatz zu fordern, für den Fall, dass man die leckere Baumkost bereits vernascht hat.
Keine Regel ohne Ausnahme: Ragt etwa ein Ast mit Früchten über die Grenze von Nachbars Garten auf das eigene Grundstück, so besteht in den meisten Kantonen (inklusive
St. Gallen) das sogenannte «Anriesrecht» – also, das Recht, die Früchte zu pflücken oder sie vom Boden aufzulesen und selbst zu essen. Eine andere Rechtsfolge gilt hingegen für Früchte, welche nicht von einem auf das eigene Grundstück überragenden Ast stammen, aber trotzdem den Weg dorthin gefunden haben. Etwa, weil der Nachbarsbaum von einem kräftigen Herbststurm durchgeschüttelt wurde. Diese Früchte dürfen nicht beansprucht werden, sie gehören dem Eigentümer des Baumes. Liegen die Früchte einmal auf dem Boden, wird deren nachträgliche Zuordnung auf die überragenden und nicht überragenden Äste im Einzelfall zugegebenermassen Schwierigkeiten bereiten. Wo das Recht, wie hier, an seine Grenzen stösst, hilft nur noch eines: miteinander reden.
Kein Anriesrecht besteht, soweit Äste auf unbebauten Boden oder auf öffentlichen Grund überragen. Wer auf einem Trottoir oder einer Strasse liegende Früchte sammeln will, hat die hierzu nötige Zustimmung deshalb bei der Grundeigentümerschaft der Bäume und nicht etwa bei der Gemeinde einzuholen. Mit einem reinen Gewissen schmeckt das herbstliche Obst nochmals viel besser!
Von MLaw Severin Gabathuler, publiziert in der Linth Zeitung, im Sarganserländer und im Werdenberger&Obertoggenburger